Damals

Kriegsende 1945

Es war die letzte Märzwoche. Ostern stand vor der Tür. Die Nachricht, dass Pohler irgendwo in der Welt gefallen oder in Gefangenschaft geraten oder seit Wochen vermisst waren, hatten auch dem letzten klargemacht, dass der Krieg verloren war und Deutschland in Chaos und Not versinken würde.

Eine Zukunft konnte oder wollte man sich in den kleinen Bauernhäusern gar nicht mehr vorstellen – ohne den Mann oder den Sohn oder den Vater. Dafür konnte man, je nach Wetterlage, den Krieg manchmal schon hören, der vom Hunsrück her immer näherkam. Nassau hatte gerade die zweite fürchterliche Bombardierung erlebt. Verletzte Soldaten aus dem dort zerstörten Lazarett saßen zum Teil in den Pohler Kellern.

Am 26. März kann man schon die ersten amerikanischen Panzer sehen, die über Endlichhofen in Richtung Miehlen rollen. In Miehlen bereiten einige Pioniere die Mühlbachbrücken zur Sprengung vor, um 11 Uhr gehen sie hoch. Als ob das die Amerikaner hätte beeindrucken können …

Deutsche Truppen sieht man kaum noch. An der alten Straße bezieht eine deutsche Flak-Kanone Stellung, die später noch einigen Schaden anrichtet. Einzelne deutsche Soldaten hetzen durch`s Dorf. Alles wirkt konfus und wenig durchdacht. In »Kuhne« holt sich ein verletzter Soldat noch etwas zu essen und frisches Wasser, ehe er weiterhumpelt. Hinter »Bremsers« liegt ein totes Armeepferd auf der Wiese. Ein kroatischer Soldat schneidet sich ein Stück Fleisch heraus, ehe er weitergeht. Er weint. Seine Heimat sähe er wohl nie wieder. Oft sind es alte Männer in Armeeuniform und ganz junge Buben, die man noch in Uniform gesteckt hat. Noch mehr Angst als vor den Amerikanern haben sie manchmal vor »den fliegenden Standgerichten« hinter der Front – die machen kurzen Prozess mit »Drückebergern«, die vor dem Feind davonlaufen. An der Pohler Kreuzung bauen ein paar Pioniere eine Sperre mit Sprengmaterial. Der Pohler Bäcker kann sie später gerade noch so überzeugen, sie nicht auszulösen. Das hätte neben seinem Haus auch die Kirche und die Nachbarhäuser in Mitleidenschaft gezogen. Am Dienstag, dem 27. März, einem freundlichen Vorfrühlingstag, kurz nach 15 Uhr ist es dann so weit. Eids Paul hat sich mit ein paar Leuten in einem kleinen Schieferstollen im Hasenbachtal versteckt, die anderen Pohler warten zumeist in den Kellern der Backsteinhäuser auf die Stunde Null. Gemauerte Gewölbe gelten als etwas sicherer.

Es ist das VIII. US-Korps unter Generalleutnant Middelton, das den Taunus von Westen her aufrollt. Mit Sturmbooten sind sie über den Rhein gekommen. Hier in Pohl sind es amerikanische Soldaten vom Infanterie-Regiment 345. Mit Panzerunterstützung kommen sie vom Hunzeler Weg ins Dorf. Sie gehören zum 3. Bataillon des Regiments und stehen unter dem Kommando von Lt.Colonel Moran. Während ihr Hass auf deutsche Soldaten, die ihnen so viel Verluste beigebracht haben, oft groß ist, gehen sie mit der Zivilbevölkerung sehr nachdrucksvoll, aber meist großzügig, oft sogar freundlich um. Wo sich aber noch deutsche Soldaten aufhalten oder wo sie gar beschossen werden, schlagen sie – wie in Holzhausen – mit aller Härte zurück. Pohl hat somit nicht unbedingt gute Karten.

Cornelius Koojman

Bernhard Wüst

Zum Retter in der Not wird hier der »Holländer-Karl«, einer von zwei holländischen Zwangsarbeitern in Pohl. Er geht im Unterdorf an der Volksschule mit einer weißen Fahne den Amerikanern entgegen und setzt sich für das Dorf ein, aus dem kein Widerstand zu erwarten sei. Im Oberdorf tut das der ehemalige Auslandslehrer Bernhard Wüst, der Englisch spricht und den Amerikanern bis an »Spitze Eck« entgegen geht. Dann lässt sich alles zunächst friedlich an: Haus für Haus wird von den Soldaten durchsucht und überall machen sie deutlich, dass alle im Keller zu bleiben haben, dass wegen des Funkenfluges kein Feuer gemacht werden darf und dass die Haustür über Nacht aufbleiben muss. Wehrmachtsangehörige, auch Verwundete, haben sich an »Spitze Eck« zu sammeln. Sie werden später im Keller von «Hannams« (Debusmann) die Nacht verbringen, ehe sie in Gefangenschaft abtransportiert werden.

Und dann fallen doch noch Schüsse: Amerikaner und Deutsche beschießen sich über das Dorf hinweg. Eine amerikanische Granate schlägt in der Kirchstraße auf und beschädigt die Kirche und die Kirchenfenster sowie das Haus der Bäckerei Stahlheber. Das auf dem Dachboden versteckte, frisch geschlachtete Kalb ist von Granatsplittern durchsiebt. Das Haus wird anschließend auch noch von einer deutschen Granate getroffen, ebenso das Haus Hund (heute: Schmidt) und daneben das Baugeschäft Himmighofen. Eine zu kurz gefeuerte amerikanische Granate tötet im Anwesen Arend (»Unnearends«) die 70jährige Johannette Kaiser. Sie will gerade in den Keller flüchten und wird von den umherfliegenden Holzsplittern eines Fuhrwerks und von Gebäudeteilen tödlich verletzt. Und auch deutsche Soldaten, die sich gerade an »Spitze Eck« sammeln, werden noch von einem deutschen Geschoss verletzt. Dann wird es wieder still, weil die Bedienung der deutschen Flak ihre Kanone oben am »Totenweg« zurücklässt und sich nach Osten absetzt.

Die Amerikaner lassen die Häuser um die Schule herum räumen und bringen den Stab ihrer Kompanie dort für die Nacht unter. Ihr Gefechtsstand wird in »Hannams« eingerichtet, wo man im Keller die gefangenen Soldaten eingesperrt hat. Sie werden am nächsten Tag in die Kriegsgefangenschaft abtransportiert. Die ganze Nacht hört man noch die Fahrzeuge auf und ab fahren, die bei ihrer Betriebsstoffgruppe nachtanken. Die hat man bei »Trempersch« (heute Haus Rothe) eingerichtet. Wo Panzer oder Soldaten untergezogen sind, schlafen die Soldaten in den Wohnhäusern.

Die Nacht ist eisig. Die meisten Pohler halten sich ängstlich an die Auflagen der Fremden. Aber nicht alle: Daniel Zorn (heute: Haus Neuhaus) hält sich nicht an das Ausgangsverbot und wird kurzerhand zu den Gefangenen gesperrt. Er kommt drei Tage später ums Leben, als er mit einer gefundenen Handgranate hantiert. Auch Pfarrer Menges hat sich zu viel erlaubt. Er hat die Tür des Pfarrhauses abgeschlossen. Ein paar Schüsse aus einer Maschinenpistole, deren Spuren man noch heute dort sieht, haben das Problem gelöst.

Der 27. März blieb ein Schicksalstag für die Pohler. Nicht nur wegen der Opfer, der Verwundeten, der Bauschäden. Traumatisch war wohl auch die Begegnung mit dem Feind selbst, den man nur aus der nationalsozialistischen Propaganda kannte. Er zeigte neben der üblichen kriegerischen Brutalität und Kompromisslosigkeit mitunter aber auch menschliche Züge: Wenn Kinder in den Kellern waren, ließen die Soldaten auch schon mal ein paar Kaugummis zurück oder gaben ihnen von ihrer Schokolade etwas ab. Als nach der eisigen Nacht ein Soldat einen Topf mit heißer Suppe in den Keller von »Unneschoustersch« brachte, wollte man den dort gar nicht annehmen. Er könnte ja vergiftet sein. Erst als der Soldat schmunzelnd selbst einen Löffel davon aß, verflog das Misstrauen. In »Unnearends« ließen sie Apfelsinen da, Früchte, die man noch nie gesehen hatte – so wie viele in Pohl vorher noch nie »einen Neger« gesehen hatten. Der Blick in schwarze Gesichter, die man nur von den Heidenkindern auf den Missionsbildchen der Kirche kannte, muss was Besonderes gewesen sein. In der Tat empfanden viele die amerikanische Besatzung erträglicher als die französische, die im Juli 1945 hier zuständig wurde.

Am Abend des 27. März waren die Amerikaner bis auf eine Linie von Bad Ems, über Nassau, Pohl, Holzhausen, Zorn angekommen. Nun stellten sie sich am Morgen des 28. März in breiter Formation an der Bäderstraße auf, um den Krieg weiter nach Deutschland voranzubringen. In Pohl fuhren sie also weiter in Richtung Lollschied und Niedertiefenbach – vorbei am Haus von Hanna Hund in der Kirchstraße (heute Haus Schmidt). Die spätere Pohler Zeitungsfrau saß dort mit ihren drei kleinen Buben und »feierte« an diesem Tag ihren 45. Geburtstag. Ihr Mann war vor einem dreiviertel Jahr in Italien gefallen und dort beerdigt, das Dachgeschoss ihres Hauses hatte man am Vortag zerschossen…

Von Normalität ist man noch weit entfernt und in manches Haus kehrt sie nie zurück. Da ist jetzt zunächst einmal ein unvorstellbares Aufatmen und Dankbarkeit, diesen Tag lebend überstanden zu haben. Deshalb ist für die Pohler Katholiken der erste Weg in die Kirche. Zögernd und verwirrt hat man sie wohl betreten, über Schutt und Staub und das zerbrochene bunte Glas der großen Kirchenfenster.  Der Schuster aus der Nachbarschaft ist wohl einer der ersten. Zwei Söhne hat er in diesen Jahren verloren, auf die Entlassung des dritten, in Kriegsgefangenschaft gehaltenen Sohnes wird noch vier lange Jahre warten müssen. 

Ein großes Problem waren die jetzt »freien« Kriegsgefangenen, die sich nun nach Belieben bewegen und bedienen konnten. In den männerlosen Haushalten waren sie gefürchtet, nicht nur weil sie die letzten Lebensmittel suchten oder aus dem in der Seidenfabrik Nastätten geplünderten Stoff Kleider genäht haben wollten. Manchmal mussten sogar die Amerikaner einschreiten. Andererseits waren es aber auch oft die ehemaligen Kriegsgefangenen, die »ihre« deutsche Familie vor anderen Kriegsgefangenen warnten und beschützten. Sie revanchierten sich also oft für eine einigermaßen gute Behandlung. Viele Pohler sprachen noch lange mit Dankbarkeit und Anerkennung von »ihrem« Polen oder Russen.

Noch hatten Krieg und Chaos kein Ende. Erst am 8. Mai schwiegen die Waffen. Noch immer gab es vermisste Soldaten, manche wie Josef Bilo aus der Klockgass oder der junge Willi Köhler aus der Wirtschaft sind bis heute vermisst. Noch im Juni verhungert Arthur Debusmann wohl im Rahmen einer Vergeltungsmaßnahme in französischer Gefangenschaft. Aber es kehren auch bald wieder die ersten Kriegsgefangenen heim. Viele sind verletzt und krank, Bernhard Klein stirbt wenige Tage nach seiner Rückkehr, normale Nahrung hat sein geschwächter Körper wohl nicht mehr vertragen. Der Zimmermann Wilhelm Schäfer ist der erste, der nach 14 Tagen Fußmarsch im April aus Frankreich zurückkommt. Bis August kommen noch – schwer gezeichnet von den Kriegsfolgen – Josef Perscheid, Richard Köhler, Robert Güth, Alois Hübel. Aber es dauert in Pohl noch bis 1950, bis alle zurück sind und bis ein neuer Alltag einsetzen kann.

Den beiden Männern übrigens, denen man den glimpflichen Ausgang des Kriegsendes mit zu verdanken hatte, hat Pohl viele Jahre später mit einer Bronzetafel am Bürgerhaus ein kleines Dankeschön gesagt. Cornelis Koojman und Bernhard Wüst fanden beide ihre letzte Ruhestätte auf dem Pohler Friedhof.     

Gemeinde Pohl
Waldstraße 4
56357 Pohl